Da kann man doch so richtig schön in kulinarischen Phantasien schwelgen. Vertieft in geistreiche Gespräche lustwandelt der Genießer, vielleicht auch noch mit einem klaren kalten Wodka in der einen und einem passenden Amuse Gueule – ein luftgetrockneter Speck zum Beispiel – in der anderen Hand, durch einen russischen Olivenhain. Und wenn dann noch ein Braunbär mit einem Olivenzweig im Maul auftaucht, kommt irgendwie alles durcheinander. Die Vorstellung ist doch etwas holprig … Wenn dann noch eine in Kalk gegossene Figur eines Badejungen dekorativ im Hintergrund herumsteht, ist das Tohuwabohu perfekt. Aber irgendwo ist da auch das Ende eines roten Fadens zu sehen, an dem es jetzt zu ziehen gilt, um Ordung ins Chaos zu bekommen.
Ein kleiner Ausflug mit Freunden führte in eine der vielen touristischen Hochburgen des Landes, also weg aus Neubrandenburg. Uns zog es mal wieder ans Wasser, genauer auf ein von diesem Medium umflossenen Eiland. Die größte heimische Insel lockte zu einem winterlichen Ausflug an die vereiste Ostseeküste, zu Seebrücke, Möwen, entfernten, aber im Dunst verschwundenen Kreidefelsen und vielfältiger Gastronomie. Es ist schon erstaunlich, dass in einer einzigen Straße so manchen Ostseebades mehr kulinarische Angebote zu finden sind als in manchen Oberzentren. Aber das soll nicht das Thema sein. Das Ostseebad Sellin – Rügenkenner haben es sicher schon am Foto erkannt – bietet da so mancherlei, auch außerhalb der internationalen Dreieinigkeit aus Pizzeria Mamma, Taverna Akropolis und Restaurant „Peking Pagode“. Und wenn man dann noch auf der Karte den Satz findet: „In unserem Restaurant verwenden wir grundsätzlich keine Fertig-Produkte. Unser gesamtes Speisenangebot wird in „Handarbeit“ von unserem … Koch und seinen Helfern zubereitet und frisch für Sie angerichtet.“, dann darf man durchaus gespannt sein.
Entsprechend übersichtlich war die Speisekarte. Aber, um es mal vorweg zu nehmen, es ist gut so. Kommt man zu einer nicht ganz üblichen Essenszeit, hat man die Chance, an einem der Tische Platz zu finden, die nicht mit Stühlen, sondern mit Couch und Sesseln bestückt sind. Es ist zwar nicht ganz einfach, auf diese Weise gut zu essen, aber so zu sitzen, mit einem Wodka oder einem Glas heißen grusinischen Tees bedacht, und durch die Weltgeschichte zu philosophieren, hat definitiv was. Von den weiten gedanklichen Reisen kommt man aber immer wieder gern ins Restaurant zurück, spätestens, um Getränke nachzuordern. Von allein kommen diese leider nicht.
Und dabei sind wir auch schon beim Service angekommen, der ist an sich sehr höflich und zuvorkommend, das eine oder andere nette Wort wechselte die Besitzer, und nach der ersten Getränkelieferung begann das kulinarische Abenteuer mit einem „за здоровье„, womit endgültig klar wird, dass es uns diesmal in ein russisches Restaurant verschlagen hat. In den Gläsern fand sich zu dem Zeitpunkt übrigens Kwas, was man durchaus mal trinken kann, wenn einem Roggenbier schmeckt. Freunde des Malzbieres werden sich ein wenig an dieses erinnert fühlen, das russische ist aber nicht so pappig süß wie das deutsche, was ein wenig wundert, erinnert man sich an den lieblichen Krim-Sekt. Aber die Krim ist ja auch Ukraine und nicht Russland. Aber ich schweife ab.
Der Ostseebesuch hatte uns doch ein wenig ausgekühlt, so freuten wir uns auf eine wärmende Suppe. Zweimal Fleischsoljanka und ein Borschtsch kamen wahrhaft dampfend auf den Tisch und schmeckten hervorragend. Der Eindruck, das oben wiedergegebene Zitat aus der Speisekarte stimme, verstärkte sich positiv. Der Borschtsch enthielt viel klein geschnittenes, aber nicht zerkochtes Gemüse und natürlich rote Beete. Die Soljanka wusste mit Oliven als Einlage zu überraschen, war aber vermutlich näher am imaginären Original als alles, was man sonst unter dem Namen angeboten bekommt.
Die Suppe im Bauch waren wir gerüstet für eines der russischsten Gerichte, das einem einfällt, wenn man an Essen in diesem großen östlichen Land denkt: Pelmeni. Jetzt könnte man darüber sinnieren, dass wohl irgendwie jede kulinarische Region so etwas im Angebot hat: schwäbische Maultaschen, italienische Ravioli, Wan Tan oder Dim sum im fernen Osten usw. usw. Man könnte aber auch sagen, dass diese kleinen saftigen Dinger, die man besser ungeschnitten essen sollte, da sonst die ganze Flüssigkeit aus dem Inneren verlustig geht, einfach nur lecker sind. Da muss man eher aufpassen, dass man sich nicht mit einer Unzahl den Magen vollstopft. Eine Idee wäre es, wenn nicht nur jeweils ein Dip dazu ausgewählt werden könnte, aber wenn man sich am Tisch einig ist und jeder bestellt einen anderen, gehts ja auch. Die Pelmeni kommen aber abgezählt auf Tellern zum Gast, so dass man, wenn man die kleine Portion nahm, durchaus noch Platz für ein Dessert hat. Bei dessen Bestellung konnten wir dann auch gleich noch Getränkenachschub ordern, wobei auch hier Sonderwünsche (ein beliebiger Saft aus der Karte als große Schorle) anstandslos geliefert wurden.
Das Dessert hieß übrigens genau so wie das Restaurant „Чай ковский“. Ob das jetzt nach dem Ort oder dem Komponisten passierte, wurde mit diesem Eisteller wunderbar beantwortet. Hochwertiges Erdbeereis, ungesüßte Schlagsahne und eine aus Sahneeis und mit Schokoladenauflage geformte Violine sprachen Bände und mundeten vorzüglich. So kann man das Restaurant „Tschai kowski“ in der Pension Tatjana im Ostseebad Sellin auf Rügen durchaus empfehlen, auch für mehrfache Besuche. Wenn man die Karte im Nachhinein liest, gibt es doch noch ein paar Gerichte, die man genießen möchte. Für Neulinge und Unentschlossene stehen übrigens auch zwei Menüs bereit, die zweimal quer durch die Karte führen. Zum Schluss gab es übrigens noch einen Wodka mit Birkensaft, aber da muss man aufpassen. Der geht nicht aufs Haus, sondern auf die Rechnung. Unüblich, aber angemessen.
Achja, eins noch: Der sogenannte Abschlusstest. Diesmal mit Russischer Schokolade und Tee aus dem Samowar? Oder doch ein Gläschen Krimskoje? Nein! Auf der Karte fand sich auch ein Espresso und nach dessen Bestellung hörte man einen Automaten Kaffeebohnen mahlen und mit Wasser und gehörigem Druck durchfeuchten. Selten habe ich meinen espressotrinkenden Gegenüber mit derart erstauntem Gesicht gesehen wie beim Servieren dieses italienischen Heißgetränkes. Das kam nämlich formvollendet in einer russisch anmutenden Espressotasse (mit Goldrand), und es gab ein kleines Schälchen Zucker sowie ein Gläschen Wasser dazu. Damit standen übrigens drei Behältnisse mit Zucker auf dem Tisch. Bereits zur Grundausstattung des Möbels gehörten Behältnisse mit weißem Würfelzucker und braunem Krümelkandis, jetzt kam noch weißer Kristallzucker dazu, am besten passend zum kleinen Schwarzen. Man merkt schon, dass das Tschai kowski auch ein Teehaus ist.
Wer also einen Ausflug auf Rügen plant, der sollte auch mal das russische Restaurant in Sellin besuchen. Es gibt eigentlich nur zwei Manko, ein kleines und ein großes. Das kleine: Wer nach dem ersten noch ein zweites Getränk möchte, muss selber aktiv werden und es bestellen. Das große: Bei allem Respekt, aber die Webseite ist grottig.